Der Rangstreit der Jünger Mk 10 - Ein brandaktuelles Thema
Predigt im Hauptgottesdienst für Herbolzheim 220403
Verfasst und gehalten von Prädikant Dr. Wolfgang Kornder
Markus 10,35-45
35 Da gingen zu ihm Jakobus und Johannes, die Söhne des Zebedäus, und sprachen zu ihm: Meister, wir wollen, dass du für uns tust, was wir dich bitten werden. 36 Er sprach zu ihnen: Was wollt ihr, dass ich für euch tue? 37 Sie sprachen zu ihm: Gib uns, dass wir sitzen einer zu deiner Rechten und einer zu deiner Linken in deiner Herrlichkeit.
38 Jesus aber sprach zu ihnen: Ihr wisst nicht, was ihr bittet. Könnt ihr den Kelch trinken, den ich trinke, oder euch taufen lassen mit der Taufe, mit der ich getauft werde? 39 Sie sprachen zu ihm: Ja, das können wir. Jesus aber sprach zu ihnen: Ihr werdet zwar den Kelch trinken, den ich trinke, und getauft werden mit der Taufe, mit der ich getauft werde; 40 zu sitzen aber zu meiner Rechten oder zu meiner Linken, das zu geben steht mir nicht zu, sondern das wird denen zuteil, für die es bestimmt ist.
41 Und als das die Zehn hörten, wurden sie unwillig über Jakobus und Johannes. 42 Da rief Jesus sie zu sich und sprach zu ihnen: Ihr wisst, die als Herrscher gelten, halten ihre Völker nieder, und ihre Mächtigen tun ihnen Gewalt an. 43Aber so ist es unter euch nicht; sondern wer groß sein will unter euch, der soll euer Diener sein; 44 und wer unter euch der Erste sein will, der soll aller Knecht sein. 45 Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene und sein Leben gebe als Lösegeld für viele.
Liebe Gemeinde,
(Ich-linge, Egoismus, Narzismus)
man hat zunächst den Eindruck, dass es hier um das kleinkarierte Darstellungsbedürfnis zweier Jünger geht: Jakobus und Johannes wollen, wenn es soweit ist und Jesus als Sieger wiederkehrt, links und rechts von ihm sitzen, sozusagen auf den Ehrenplätzen neben dem Meister. Dass den anderen Jüngern dieses Ansinnen die Nase rauf geht, ist verständlich. So hat man den Eindruck, es handle sich um das übliche rivalisierende Gezänk innerhalb einer festen Gruppe. Das ist es sicher auch, aber nicht nur, denn diese Geschichte trifft, wie ich zeigen will, den Nerv unserer Zeit.
Es geht darum, sich ins Rampenlicht zu stellen. Genau das wollen ja Jakobus und Johannes. Und genau das läuft landauf und landab nicht nur in unserer Gesellschaft. In den öffentlichen Medien werden für dieses Verhalten Begriffe wie Ich-linge, Egoismus oder Narzismus verwendet. Allen gemeinsam ist die Selbstbezogenheit solcher Menschen. Das fängt bei den Querdenkern an, geht bei Schauspielern Oligarchen oder wem auch immer weiter und hört bei Politikern und bei uns selber auf.
Wenn wir den Ukraine-Angriffskrieg Putins betrachten, landen wir bei einer gekränkten Person, die sich im Weltgeschehen nicht ausreichend gewürdigt fühlt. Und infolge dessen holt er sich mit brachialer Gewalt das zurück, was nach seiner Meinung zu seinem Großreich gehört, um wie ein russischer Zar nicht links oder rechts sondern zentral in der Mitte auf dem Thron zu sitzen. Man muss keine große Bibelkenntnis haben, um angesichts dieses Bildes auf den Schöpfungsbericht der Bibel, genauer 1. Mose Kapitel 3 zu kommen, wo die Schlange Adam und Eva einflüstert:
4 Da sprach die Schlange zur Frau: Ihr werdet keineswegs des Todes sterben, 5 sondern Gott weiß: an dem Tage, da ihr davon esst, werden eure Augen aufgetan, und ihr werdet sein wie Gott ...
Sein wie Gott, wer will das nicht? Von der Grundtendenz her auch Johannes und Jakobus. Damit sind wir beim zentralen Bedeutungskern unseres heutigen Predigttextes und es stellt sich natürlich sofort die Frage: Wie damit umgehen?
(Reaktion der anderen Jünger)
Zunächst reagieren die anderen Jünger und die sind sauer, weil sich zwei von ihnen eine besondere Position anmaßen. Das kennen wir ja auch an unseren Gemeinschaften, auch aus unseren Dörfern. Wer sich zu sehr abhebt, der fällt auf, und den muss man zurechtstutzen oder wenn das nicht gelingt, mitmachen und ihn, wenn es nicht anders geht, in seiner herausgehobenen Position anerkennen.
Die anderen Jünger regen sich darüber auf und fallen über Jakobus und Johannes her. So ein richtig schöner Gruppenkonflikt ist im Entstehen, der das Potential hatte, den Jüngerkreis Jesu zu sprengen. Bis hierher läuft alles ganz normal nach gruppenspezifischen Gesetzmäßigkeiten.
Das Problem ist, dass sich zwei herausheben wollen, und die anderen dabei zu kurz kommen. So wie sich Putin herausheben will – auf Kosten anderer, die natürlich zu kurz kommen.
Je nachdem, wie radikal sich solche Prozesse entwickeln, können daraus Konflikte entstehen, bis hin zu Kriegen. Die Geschichte ist voll solcher Beispiele, vom Angriffskrieg Hitlers gegen Polen bis hin zur lange gepflegten Erzfeindschaft zwischen Deutschland und Frankreich.
(Reaktion Jesu)
Jesus bekommt das mit. Und er tut zunächst genau das, was man in solchen Konflikten tun muss: er holt seine Jünger zusammen, um mit ihnen zu reden.
42 Da rief Jesus sie zu sich und sprach zu ihnen: Ihr wisst, die als Herrscher gelten, halten ihre Völker nieder, und ihre Mächtigen tun ihnen Gewalt an.
Hochinteressant, wie er die Sprengkraft solcher Konflikte mit aufnimmt. Denn wie aus heiterem Himmel, kommt er auf die Herrscher und Mächtigen zu sprechen. Und was er von deren Machenschaften hält, wird mit wenigen Stichworten deutlich: sie unterdrücken ihre Völker und tun ihnen Gewalt an. - Es mag Zufall sein, aber genau das passiert derzeit in der Ukraine:
Ihr wisst, die als Herrscher gelten, halten ihre Völker nieder, und ihre Mächtigen tun ihnen Gewalt an.
Diese Einschätzung wird ja auch in der säkularen Welt von vielen geteilt. Fast der komplette Westen könnte hier zustimmen. Die Wege trennen sich aber, wenn man hört, was Jesus zur Konfliktlösung vorschlägt.
43 Aber so ist es unter euch nicht; sondern wer groß sein will unter euch, der soll euer Diener sein; 44 und wer unter euch der Erste sein will, der soll aller Knecht sein. 45 Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene und sein Leben gebe als Lösegeld für viele.
Da geht es kurz und bündig ausgedrückt um Werte, um Positionen und Verhalten in einem Gemeinwesen. Es geht um Werte, die dem Ich-lings-Denken, dem Egoismus oder dem Narzismus konträr gegenüberstehen.
Dabei wird das „groß sein“-Wollen, das „vorne-dabei-sein-Wollen“, der „Erste-sein-zu-Wollen“ nicht grundsätzlich verdammt. Es geht also nicht darum, dass man sich nicht herausheben sollte, dass man sich nicht anstrengen sollte, der oder die Erste zu sein. Aber geht korrigierend darum, womit man sich heraushebt, wie man eine Führungsrolle einnimmt und ausfüllt. Und da kommt ein ganz andere Werteskala zum Vorschein, als häufig zu erleben ist: Es geht um den Einsatz für andere ohne sich dabei selbst groß machen zu wollen. Die Größe liegt anders ausgedrückt darin, dass man seinen Einsatz nicht egoistisch für die Selbstdarstellung, für den eigenen Status missbrauchet, sondern in den Dienst der Gemeinschaft stellt.
(Unterstützung durch Jesus Christus)
Ein gewaltiger Anspruch, der unserer menschlichen Natur eher zuwider läuft. Ein Anspruch, der eben nicht selbstverständlich ist. Ein Anspruch, wo man Unterstützung braucht, sonst gelingt das nicht. Und diese Unterstützung lebt in der Person Jesu:
45 Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene und sein Leben gebe als Lösegeld für viele.
Völlig unabhängig davon, ob man Jesus als Sohn Gottes sieht oder nicht, lebt er als Gruppenanführer, als Meister, diese Werte, gibt ein Vorbild und regt damit zu einer Auseinandersetzung an, die diese Werte stärkt. „Lernen am Modell“ nennt das die Pädagogik.
Wenn wir noch eine Stufe tiefer gehen, müssen wir in die spirituelle Dimension dieser Szene eintauchen. Wenn Jesus als „Meister“ mit seiner Autorität überzeugt, dann wird es dazu kommen, dass sich seine Jünger und Anhänger damit identifizieren. Das ist ein psychoanalytischer Terminus, der im Guten wie im Bösen funktioniert: Gruppenanhänger übernehmen Werte und Verhalten ihrer Meister. Wenn die Gewalt propagieren und vorleben, übernehmen sie diese Gewalt, wenn sie Friedfertigkeit anmahnen und vorleben, übernehmen sie die Friedfertigkeit. Auch das kann man im Ukrainekrieg ganz klar beobachten.
Von daher ist es absolut nicht unerheblich, was ein Gruppenführer sagt und tut. Und wenn Jesus in unserem Predigttext vom Dienen spricht, gibt er genau diese gewaltlose und friedfertige Richtung vor.
Ein letzte Stufe erreichen wir, wenn wir in Jesus, im Menschensohn, wie er sich in unserem Predigttext selbst nennt, den Gottessohn sehen und empfinden. Da verlassen wir das Materielle und Säkulare und treten ein in eine andere Dimension, in eine spirituelle Sphäre. Dann wird eine Brücke über das Materielle hinaus gebaut, hin zu dem, was das materielle Denken sprengt, hinein in die spirituelle Dimension dieses Kosmos. Und da sind wir beim Thema Glauben.
Der sehr bekannte Nürnberger Psychoanalytiker Dr. Bernd Deininger spracht in der Donnerstagsausgabe der NN treffend davon: Der Glaube ist ein Glücksgefühl! Und der Glaube an Jesus Christus ist das Zentrum des Christentums, das Gefühl, hier gehalten und geborgen zu sein. Wenn wir das empfinden, dann sind wir in dieser spirituellen Sphäre angelangt. Und von dort aus lässt sich anders leben, anders als im Dickicht der säkularen und materiellen Verstrickungen.
Getragen von einem solchen Glauben konnten die Jünger offensichtlich eine neue Lebenshaltung gewinnen, den Konflikt bewältigen und über den Konflikt hinauswachsen.
Jakobus und Johannes haben ihre zutiefst egoistischen Züge zurückgestellt und die anderen zehn Jünger haben verstanden, dass das in jedem Menschen lebt und lauert, auch in ihnen.
Verwurzelt in der Verbundenheit mit Jesus konnten sie den Konflikt bewältigen. Denn damit wachsen Geborgenheit, innerer Friede und innere Stabilität. Eine solche Verwurzelung, einen solchen Glauben, wünsche ich allen, die am Ukrainekonflikt beteiligt sind, und uns allen im ganz normalen, alltäglichen Leben.
Amen
Eingestellt 220404
Bearbeitet: 220405
© Dr. W. Kornder