Wervoller Rohstoff oder (zu früh) getötetes Leben?
Wervoller Rohstoff oder (zu früh) getötetes Leben?

Das geheime Leben der Bäume

Anmerkungen zu Peter Wohlleben

 

Vorbemerkungen

Ich schätze Peter Wohlleben, der seinen eigenen Weg gegangen ist, der sicher sehr viel Erfahrung mit dem Wald hat, dem es gelungen ist, eine breite Öffentlichkeit für den Wald zu interessieren und den Wald in die Diskussion zu bringen. An dieser Diskussion will ich mich beteiligen, weil ich jenseits aller waldbaulichen Diskussionen als einer, dem die Aufklärung wichtig ist, mit seinem Ansatz einer einseitigen Betrachtung und der Vermenschlichung der Pflanzen nicht einverstanden sein kann.

 

Ein irritierender Einstieg

Auf den Bestseller „Das geheime Leben der Bäume“ von Peter Wohlleben wurde ich nicht nur angesprochen. Ich bekam das Buch auch geschenkt. Und da es zu meinen Interessensbereichen passt, habe ich auch begonnen, es zu lesen.

 

Nach den ersten Seiten war ich kurz davor, das Buch wieder wegzulegen und ungelesen in das Bücherregal zurück zu stellen. Warum? Da ging es um den so sozialen Wald, der mütterlich für alles sorgt. Eine Art Sozialstation. War das der Wald, den ich seit Kindesbeinen kenne? – Der Wald, den ich kenne, ist schön, toll, kalt, nass, dunkel, macht Arbeit und nimmt wenig Rücksicht auf die Schwachen. In dem Wald, den ich kenne, frisst der Fuchs Mäuse und andere Tiere, die allesamt nicht gefressen werden wollen, das Reh macht ganze Waldverjüngungen platt und die „Mutterbäume“ müssen dem machtlos zusehen, ….

 

Und schon an dieser Stelle darf ich hinzufügen: mit Wald verband ich ebenfalls von Kindesbeinen an Waldarbeit. Meine Eltern haben ausschließlich mit Holz geheizt und ich mache das in meinem Neubau von 1993 bis zur Stunde nicht anders. Und das Holz mache ich natürlich selbst, nicht mit dem Beil und der Handsäge, sondern mit der kreischenden Motorsäge. Und heimfahren tue ich es auf ausgebauten Forstwegen im Hänger, der von einem Allrad-Pkw gezogen wird.

 

Wohlleben ist eine bekannte Persönlichkeit, sagte dann eine Stimme in mir, es ist gut, nicht nur die ersten Seiten zu kennen, sondern weiter zu schauen. Vielleicht wird es ja realistischer.

 

Gesagt, getan. Ich habe das ganze Buch gelesen. Überraschend widersprüchlich zu den menschlich anmutenden Sozial- und Freundschaftsbeschreibungen im Wald kam ich dann zumindest kurz z.B. S. 103 auf den Wald, den es in der Natur realistisch gibt, in dem „das Gesetz des Stärkeren“ gilt, in dem Lebewesen „auf ihre Chance, endlich einmal zuzuschlagen“, warten. Oder Wohlleben stellt in Bezug auf die hohe Lichtabsorption der Bäume fest: „Das ist brutal und rücksichtslos, aber nimmt sich nicht jede Art alles, was sie bekommen kann?“ Und trotz seiner Begeisterung für das „Sozialsystem“ Wald kann er schließlich eiskalt „von einer harten Auslese, die unvernünftige (!) Bäume aus dem Rennen nimmt“, reden. Die Widersprüche und die heiß-kalten Gefühlsduschen ließen sich fortsetzen. Das sind einfach logische Folgen, einer dem Wald zugeschriebene Vermenschlichung. Ob das dem Wald gerecht wird?

 

Und dann kommen da immer wieder „die Förster“ vor, die ja so blind, völlig unsensibel, rein ökonomisch im Wald abhausen. Wobei ich schon präventiv sagen muss, dass ich selbst kein Förster bin, sondern von der Geisteswissenschaft geprägt wurde.

 

Ausblendungen?

Worauf es bei Wohlleben letztendlich hinausläuft, beschreibt er auf den letzten zwei Seiten. Von hier aus will ich auch ansetzen, meine Anfragen zu stellen. Zunächst gibt es da eine ganze Reihe von Ungereimtheiten. In Bezug auf „unsere(n) tierischen Kollegen“ und den von ihm gleichgestellten „Lebewesen“ Bäume sei die Schweiz da viel weiter, wo „das Köpfen von Blumen am Wegrand ohne vernünftigen Grund unzulässig“ sei.

 

Wieder stutze ich! Kennt ein Fachmann wie Wohlleben die deutschen Naturschutzgesetze so wenig, in denen das Gleiche formuliert ist?

"§ 39 Allgemeiner Schutz wild lebender Tiere und Pflanzen; Ermächtigung zum Erlass von Rechtsverordnungen„(1) Es ist verboten,

1. wild lebende Tiere mutwillig zu beunruhigen oder ohne vernünftigen Grund zu fangen, zu verletzen oder zu töten,

2. wild lebende Pflanzen ohne vernünftigen Grund von ihrem Standort zu entnehmen oder zu nutzen oder ihre Bestände niederzuschlagen oder auf sonstige Weise zu verwüsten,

3. Lebensstätten wild lebender Tiere und Pflanzen ohne vernünftigen Grund zu beeinträchtigen oder zu zerstören.“

 

Für die Biolandwirtschaft suggeriert er, „dass ein Teil … in Würde alt werden und schließlich eines natürlichen Todes sterben darf“ (216). Und wieder bin ich verdutzt, denn in den nicht gerade wenigen Biobetrieben, die ich kenne, werden Tiere, z.B. Kühe, durchaus alt, aber dann genauso geschlachtet und verwertet wie andere Nutztiere.

 

Wir sollten Bäume, „analog zur Tiernutzung, unnötige Leiden ersparen“ (216). Und, wohl die sich daraus ergebende Konsequenz für uns Menschen erahnend, schiebt er sofort nach: Dass wir Menschen notwendigerweise unsere Lebensmittel aus der Natur bezögen, sei nicht verwerflich. Aber warum zieht Wohlleben bei der Waldnutzung die Grenze bei der Plenterwaldbewirtschaftung, die erlaubt sei? Leid entsteht hier wie dort. Und gibt es im Plenterwald nicht auch Waldpflege, die in die Bestände eingreift, also Bäume, auch junge Bäume, „tötet“? Und werden nicht auch dort hiebsreife Bäume gemessen an der von Wohlleben immer wieder betonten langen Lebenspanne eines Baumes viel zu jung geschlagen? Und fehlen nicht auch im Plenterwald die Urwaldriesen, eben weil fast kein Baum älter wird als ökonomisch zulässig?

 

Und im Plenterwald hebt er hervor, dass „Baumkinder unter ihren Müttern aufwachsen“. Aber er fügt nicht hinzu, dass dies nur dann gilt, wenn nicht überhöhte Schalenwildbestände alle „Kinder“ auffressen (216; Kritische Anmerkungen zu den Schäden durch Schalenwild finden sich auch S. 110 oder speziell zur Weißtanne S. 174). Was ist das für ein Ausblick, mit dem er sein Buch abschließt? Worauf will er hinaus?

 

Zu Ende gedacht?

Wald darf genutzt werden, wenn die Bäume „ihre sozialen Bedürfnisse ausleben können, dass sie in einem echten Waldklima mit intakten Böden wachsen und ihr Wissen an die nächste Generation weitergeben können“. Wenn es diese „sozialen Bedürfnisse“ überhaupt gibt, weshalb gilt das dann nur für Bäume und den Wald? Müssten wir dann nicht zuallererst die vielen „sozialen Bedürfnisse“ aller Pflanzen, auch der Nutzpflanzen angehen und verbessern. Gerade Letztere sind ja – nach Wohlleben´schen Kriterien - noch viel schlechter dran. Sie „fühlen“ ja wohl auch wie Bäume, werden geradezu vergewaltigt! Gerade diese ganz offensichtlich mit Füßen getretenen, fühlenden und vernunftbegabten Wesen müssten doch die erste Adresse unserer Fürsorge sein, oder? Wohlleben spricht diese Sicht der Dinge ganz in dem von mir interpretierten Sinne indirekt an: „Wenn die Fähigkeiten der Vegetation bekannt und ihr Gefühlsleben und ihre Bedürfnisse anerkannt sind, dann sollte sich schrittweise unser Umgang mit Pflanzen ändern.“ (217) Warum zieht er die damit verbundene Konsequenz nicht? Letzteres kann sich ja jeder lebhaft ausmalen, denn was passiert mit der Ernährung der 7 Milliarden Menschen auf unserem Planeten, wenn das postulierte Gefühlsleben der Nutzpflanzen in dieser Weise ernst genommen werden müsste?

 

Wenn Pflanzen ein ähnliches Gefühlsleben wie wir Menschen haben, ansatzweise Vernunft zeigen oder sozialfähig sind, dann muss man, wie Wohlleben das auch tut, nach der Forderung der >Tierrechte< auch die der >Pflanzenrechte< erheben. Ist den Anhängern solcher Theorien bewusst, dass dann das Halten von Topfpflanzen als >Isolationshaft< zu sehen ist, dass das Ausjäten von Unkraut >Pflanzenmord< ist, dass das ständige Beschneiden von Buchsbäumen, Rosen, Hecken etc. schmerzhafte Eingriffe sind, die man zu unterlassen hat? Ist bewusst, dass es dann keinen englischen Rasen mehr geben kann (, womit ich keine Probleme hätte), weil dort ja der Wachstumswille von Pflanzen ständig brutal niedergemacht wird? Und wenn die naturgemäße Entwicklung von Pflanzen eine Art Grundrecht ist, dann müssten in den Gärten all der Pflanzenrechtsvertreter innerhalb weniger Jahre zumindest ansatzweise Wildnis und in 500 Jahren Urwälder zu sehen sein. Übersieht man etwa, dass wir mit den Pflanzen in unseren kultivierten Wohn- und Lebensbereichen ganz anders umgehen müssten, das ständige schmerzhafte Kultivieren einstellen und jede Topfpflanzenhaltung aufgeben müssten? Oder gilt der naturgemäße Umgang nur für die Wälder der anderen?

 

Insgesamt kommt man in eine Sackgasse, wenn man Wohllebens Ansatz zu Ende denkt und den Ungereimtheiten nachgeht. Kurzum, man landet in einer gut gemeinten, aber realitätsfernen Idealisierung, die bestimmte Konsequenzen verschweigen und ausklammern muss. So entsteht eine Diskrepanz, ein Leben in zwei Welten, die nicht zusammen passen. Die Psychoanalyse nennt so etwas Abspaltung.

 

Regression und Realitätsferne?

Wie kommt so etwas Realitätsfernes zustande? Und wie kommt es, dass derartig realitätsferne Hypothesen so ankommen?

 

Wir leben in einer zunehmend komplizierten und unüberschaubaren Welt. Das verunsichert und macht Angst. Ganz konkret z.B. der Klimawandel, die Atomkraftwerke und deren völlig ungeklärte Entsorgung, momentan, in der Zeit nach Wohllebens Buch entstanden, die Flüchtlingsbewegung, usw. Man sehnt sich nach der heilen Welt, die harmonisch ist und Sicherheit gibt. Und so reagieren unsere Gesellschaft und andere Gesellschaften dieser Erde infolge der Angst tiefenpsychologisch gesehen mit Regressionen, d.h. mit einem Verhalten, das man als Kind hatte und das man im Zuge des Erwachsen-Werdens überwindet, mit einem Verhalten, das frühen Stufen der menschlichen Entwicklung zu eigen war. Die Bäume und der Wald werden vermenschlicht, so wie in einem Kinderbuch, in dem der Baum spricht und Tiere vernünftig agieren und über Gattungsgrenzen hinweg miteinander reden. Wir sind dann auf der magischen Ebene früher menschlicher Gesellschaften, die im Blitz den zürnenden Gott und mit dem Fällen der Donarseiche das Ende der Welt gekommen sahen. Das blendet den erarbeiteten Realitäts- und Entwicklungsstand aus und man fällt in eine bereits überwundene Phase zurück. Wer als Erwachsener im 21. Jhd. solche Vorstellungen vertritt, lebt in Regression. Und weil moderne Gesellschaften immer mehr von dieser Daseinsangst geplagt sind, springen sie auf die damit verbundenen Anthropomorphismen an und leben Teile dieser Welt als abgespaltene Kinderwelt.

 

Dieser Zug der Regression zeigt sich m.E. an vielen Stellen in unserer Gesellschaft. Immer wieder erlebt man, dass infantile, naive, regressive Ansichten bestens ankommen. Infantil heißt, nicht differenziert. Denn differenziert denken kann ein kleines Kind nicht. Ich muss ihm Dinge vereinfachen, egal ob es sich dabei um Gott handelt oder ein Kraftwerk oder die Relativitätstheorie von Einstein. Im kindlichen Alter sind solche Vereinfachungen sinnvoll. Aber Kinder müssen wachsen, sie müssen die Geborgenheit im Garten Eden, im Paradies, verlassen, denn einer komplexen Welt werden sie damit nicht gerecht.

 

Peter Wohlleben ist ein Bestsellerautor. Das bestätigt ihn. Aber haben „Bestsellerautoren“ immer Recht? Greifen sie nicht oftmals völlig überspitzt Themen auf, die in der Fachdiskussion heftig und längstens diskutiert werden, sich dort aber niemand anmaßen würde, die Lösung zu haben und Schuldige an den Pranger zu stellen? Ich kenne das aus meinem Professionsbereich, der Pädagogik. Da treten Leute auf, die selbst nie unterrichtet haben, und füllen Säle und eine gläubige Gemeinde hängt an ihren Lippen. Dabei können sie in der Praxis nur auf wenige Erfolgsbeispiele verweisen und ob sich ihre so schönen Vorstellungen wirklich umsetzen lassen, ob es nicht weitestgehend Hirngespinste sind, steht in den Sternen.

 

Dass man Wälder übernutzen kann, wissen wir nicht nur aus der Geschichte. Dass man Wälder schonend oder rücksichtslos bewirtschaften kann, findet sich beides in Deutschland. Dass Waldbesitzer eine gute innere Bindung zu ihren Wald haben können und andere darin nur ein ökonomisches Objekt oder eine Kulisse für die Jagd sehen, ist bekannt. Dass Harvester heftige Spuren hinterlassen und etwas Fragwürdiges an sich haben, weiß man. Aber würden alle Pferde Deutschlands überhaupt ausreichen, das Holz aus dem Wald zu holen, und wer würde das so gerückte Holz noch bezahlen wollen? Dass Waldarbeit zu den gefährlichsten Arbeitsbereichen überhaupt gehört und der Harvestereinsatz hier Menschenleben schützt, sollte man sich bewusst machen. Dass sich unsere Wälder trotz irrsinnig teurer Wildschutzmaßnahmen (100 Million Euro pro Jahr in Deutschland) nicht naturgemäß entwickeln können, sollte zu denken geben. – Die Probleme sind erkannt und werden auch diskutiert. Eine umfassende Lösung dieser Problembereiche steht aus. Was ist von Wohlleben hier zu erwarten?

 

Geheimnislüftung seit Jahrhunderten

Der Versuch, Naturschutz und Ökologie im Wald besser zu berücksichtigen, wird von einer ganzen Reihe von Forschern und Praktikern seit Jahrzehnten, teils seit Jahrhunderten, eigentlich seit Jahrtausenden überzeugend gelebt. Ich erinnere nur an herausragende Leute, wie Heinrich von Cotta oder Simon Rottmanner, die bereits vor Jahrhunderten mit solchen Gedanken aufwarteten, an Karl Gayer, Prof. Peter Burschl oder Prof. Fredo Rittershofer, die Arbeitsgemeinschaft Naturgemäße Waldwirtschaft (ANW), an die Bemühungen vieler Naturschutzverbände, an das Engagement einzelner Waldbesitzer wie Georg Hinterstoißer oder Großgrundbesitzer wie die Hatzfeldt´sche Forstverwaltung. Ich erinnere daran, dass im Aufkommen der Ökologie seit Charles Darwin und Häckel die Zusammenhänge im Lebensbereich immer differenzierter gesehen und beschrieben werden. Das „geheime“ Leben der Natur wird seitdem entschlüsselt, auch das der Bäume. … Gott-sei-Dank sind diese Leute weitgehend auf dem Boden geblieben und haben sich von der Versuchung der Anthropomorphisierung und der infantilen Regression nicht vereinnahmen lassen. Sie blieben bei der Realität, versuchten und versuchen damit vernünftig umzugehen.

 

Realität Wirtschaftswald

Realität ist, dass wir in Deutschland in einer Kulturlandschaft leben. Unsere Städte und Dörfer, in denen uns Internet und Handys beschäftigen, geben davon ganz unzweifelhaft Zeugnis. Gerade diese Bereiche bis hin zum Leben vor der Glotze bei künstlichem Licht verführen leicht dazu, im Wald die >Natur< schlechthin zu sehen. Die heile Welt moderner Menschen ist oftmals der Wald. Und in dem fahren jetzt Harvester herum, und in dem werden angeblich ausschließlich profitorientiert Bäume gefällt und bestimmte, zunehmend wachsende Naturschutzstandards mit Füßen getreten. Der Inbegriff der Natur, der Wald, ist in Gefahr!

 

Dabei übersehen wir, dass dieser Wald seit Jahrtausenden genutzt und nicht erst seit Jahrhunderten intensiv vom Menschen bearbeitet wurde, dass abgeholzt wurde um Ackerland zu gewinnen, dass abgeholzt wurde, weil man den Wald für den Schiffsbau oder die Salinengewinnung oder für die Reparationszahlungen nach unseren verlorenen Kriegen brauchte. Dass er als Viehweide hergenommen wurde, dass die abgefallenen Nadeln der Nadelbäume bis in die 50er Jahre des 20. Jhd. in Bayern als Streu zusammengerecht und verwendet wurde. Aber auch, dass devastierte Wälder aufgeforstet wurden, dass der hoch fragwürdige Altersklassenwald längst durch naturnähere Waldbaustrategien abgelöst ist, ….

 

Und dann müssen wir auch realisieren, dass all dieser Wald jemandem gehört, der ihn nutzt, dem Staat, Privatpersonen, Kommunen … Es fehlt das Bewusstsein, dass wir Wirtschaftswälder haben. Und Wirtschaftswälder sollen Profit erwirtschaften und tun dies endlich auch wieder und sichern damit Arbeitsplätze, bringen den heißbegehrten Rohstoff Holz und dienen dem Gemeinwohl mit den sog. Wohlfahrtsleistungen. Der deutsche Wald ist nicht >Natur pur<, er ist >Kultur pur<.

 

Kultur kommt übrigens vom lateinischen cultura, und damit ist die Ackerwirtschaft, die agricultura, gemeint. Mit der Bewirtschaftung des Bodens setzte ein enormer Kulturschub ein. Ohne diese hätten sich unsere modernen Kulturen mit all ihrem Segen und Fluch nicht entwickelt. Die frühe Stufe der Sammler und Jäger hätte das nicht leisten können.

 

Wer einen Wirtschaftswald hat, will daraus Gewinn erzielen. Das ist bei Peter Wohlleben und der Gemeinde Hümen, für die er arbeitet, nicht anders. Geld wird dort mit neuen Geschäftsfeldern erwirtschaftet, z.B. mit einem Friedwald. Auf diese Geschäftsidee sind natürlich andere schon lange vor Peter Wohlleben gekommen und ich vermute, dass es derzeit keine höhere Rendite aus dem Wald gibt, als die Bewirtschaftung als Friedwald. Wer ein solchen Geschäftsmodell entwickeln konnte, muss natürlich nicht mehr mit dem Holzmachen Profit erwirtschaften, der kann den Rest des Waldes ganz entspannt und ganz naturgemäß bearbeiten oder sich selbst überlassen. Je natürlicher, desto besser für das andere Geschäftsmodell, für den Friedwald.

 

Ob bewusst oder unbewusst passen die von mir vorher genannten Paradiesgedanken, die heile Welt Gedanken, mit dem Friedwald bestens zusammen. Der Mensch findet seine letzte Ruhe nicht mehr auf dem klassischen >Gottesacker<, die Betonung liegt auf >Acker<, sondern in (Gottes) >Natur<. Damit sind wir auch auf dem derzeitigen religiösen Mainstream, wo nach dem >Tode des alten Gottes< und des verheißenen Paradieses etwas anderes, neue Götter und Paradiese deren leer gewordene Stellen füllen müssen.

 

Auf dem Weg zum möglichst naturgemäßen Wirtschaftswald

Peter Wohllebens Forderungen für einen naturgemäßeren Umgang mit dem Wald sind nicht neu. Das haben viele vor ihm gesagt und überzeugend daran gearbeitet. Hier ist ihm, als einem von vielem, auch beizupflichten. Aber wir sollten die Kirche im Dorf lassen. Den Wald und damit die Pflanzenwelt insgesamt anthropomorph und damit regressiv zu betrachten, schafft zwar eine große Anhängerschar, konsequent zu Ende gedacht aber unlösbare Probleme und geht damit an der Realität vorbei. Er erschafft eine Esoterik vom Wald, der wie der Mensch kommunizieren kann, sich erinnert, denken kann, fühlen sowieso und sich untereinander wie ein Sozialwerk stützt und auf die Einmischungen von uns Menschen verzichten kann, verzichten sollte. Und damit kommt es zu Bewusstseinsspaltungen und zur Flucht in Scheinwelten. Probleme werden damit nicht gelöst.

 

Natürliche Waldentwicklung in unserer Kulturlandschaft?

Unsere mitteleuropäische Kulturlandschaft ist weitgehend dadurch geprägt, dass in weitesten Teilen Großprädatoren wie Bär, Wolf oder Luchs fehlen. Diese fehlen, weil sie vom Menschen ausgerottet wurden und heute in der zersiedelten Landschaft nur bedingt zurechtkommen würden. Weiter ist unsere Kulturlandschaft dadurch geprägt, dass sie zersiedelt ist und durchsetzt mit landwirtschaftlichen Flächen. Letzter bewirken, unterstützt durch die Düngung aus der Luft, einen hohen Energieeintrag, der sich im Pflanzenwachstum bis hin zu dem verstärkten Wachstum der Bäume, die dadurch weite Sommerjahrringe bilden, was der Holzqualität aber abträglich ist. Am Rande kommen unter dem Gesichtspunkt der Energieeinbringung die Fütterungen unbelehrbarer Jäger dazu. Zusammen mit den Sturmflächen der letzten Jahrzehnte und den damit verbundenen Frei- oder Aufforstungsflächen entsteht so eine optimale Lebensgrundlage für unser Schalenwild. Dazu kommen die immer milderen Winter, die ihrerseits dann weniger Verluste unter dem Schalenwild fordern und so die Funktion des winterlichen Flaschenhalses weitgehend ausfällt. Die Folge ist das Anwachsen der Schalenwildbestände. Das wiederkäuende Schalenwild hat eine Dichte erreicht, wie wir sie in Deutschland noch nie hatten. Ob es das 50-fache von früher ist, wie Wohlleben meint, sei dahin gestellt. Aber eines ist sicher: Bei diesen Schalenwilddichten verjüngt sich kein Wald mehr natürlich! Entweder greift der Mensch über eine effektive Jagd ein oder er baut auf dem Teil der zu verjüngenden Waldfläche Zäune oder arbeitet mit anderen Schutzmaßnahmen, die aber allesamt Krücken sind, oder er kann sich den naturnahen Wald abschminken. Und so sage ich auch ganz klar, dass ohne angepasste Schalenwildbestände kein Plenterwald der Welt vernünftig funktioniert. Und weiter darf ich hinzufügen, dass das Gleiche für alle Schutzgebiete bis hin zu den Nationalparks gilt. Kein einziger deutscher Nationalpark hat wirklich angepasste Schalenwildbestände. Darauf folgt, dass er in seiner Verjüngung eindeutig negativ beeinträchtigt wird und sich letztendlich zu einem selektierten, unnatürlichen >Urwald< entwickeln wird, in dem eben Natur nicht Natur sein darf.

 

Auf Peter Wohlleben hin bezogen heißt das: Unseren Wald einfach sich selbst zu überlassen und am besten noch die unvernünftigen Förster abzuziehen wäre ein Fiasko. Ich wundere mich als Nicht-Naturwissenschaftler, dass ihm das keiner unserer Fachleute sagt oder zu sagen traut.

 

Mit Vernunft, der seit Charles Darwin die Entschlüsselung der ökologischen Zusammenhänge zunehmend gelingt, und Herz, d.h. einer Einstellung, die einfühlsam, zugewandt und konstruktiv ist, an den gewaltigen Problemen zu arbeiten, das wäre die Aufgabe. Das sind wir im Hinblick auf den derzeit so katastrophalen Zustand der Erde und der auf ihr lebenden Menschheit auf dem Hintergrund der Aufklärung schuldig. Daran gemeinsam, auch zusammen mit Peter Wohlleben, zu arbeiten, statt Scheinlösungen in den Raum zu stellen und Gräben aufzureißen und zu vertiefen, wäre die große Zukunftsperspektive.

 

Dr. Wolfgang Kornder

(Geschrieben April 2016 als Privatperson! © Wolfgang Kornder)

 

Der Artikel wurde in der ÖKOJAGD 3-2019 S. 27ff abgedruckt. 

 

Aktualisiert: 170221

© Dr. W. Kornder